… und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden…

Etwas schockiert war ich schon nach dem Termin mit der Coachin. Dabei hatte sie nur in einem Nebensatz gesagt: „Sie können momentan maximal 30 % Ihres Lebens kontrollieren und damit auch nur so viel Ihres Lebensglücks erreichen.“ Stop! Nur 30 %? Natürlich hatte ich nie in Zahlen darüber nachgedacht, welche Anteile meines Lebens ich gerade bestimmen kann, aber – als handlungsorientierter Mensch wie so viele meiner Dolmetschkolleginnen und -kollegen – dachte ich wahrscheinlich schon, dass so 70-80 % drin sein müssten. Schließlich tue ich all die richtigen Dinge: Ich gebe meinem Leben einen Rhythmus, stehe pünktlich auf, treibe erst einmal Sport, esse gesund, erledige Liegengebliebenes und gönne mir ab und zu eine Runde Netflix oder eine Tafel Schokolade. Dass selbst damit kein 100%iges Wohlgefühl zu erreichen ist, hatte ich zwar schon gemerkt, aber sooo wenig…

Dabei ist die Sache bei genauerer Betrachtung klar: Ja, wir, die teilweise auch verschriene „Homeoffice-Elite“ sitzt schön im virenfreien Heimbüro, arbeitet vermutlich eher weniger als mehr und muss allenfalls ab und zu einem Sprössling das Netzwerk-Kabel für die Latein-Schulkonferenz leihen. Klar, es könnte alles viel, viel schlimmer sein…

Aber: Eigentlich steht auch kein Stein des Prä-Corona-Lebens mehr auf dem anderen. Erst einmal gehen morgens die Kinder nicht aus dem Haus, sondern sitzen vor ihren Bildschirmen (wogegen man vorher gekämpft hat wie Don Quichote gegen die Windmühlen), jammern über die instabile Plattform oder die in dschungelartigen Verzeichnisbäumen versteckten Hausaufgaben. Auch der Ehemann sitzt seit März 2020 (man muss die Jahreszahl inzwischen dazunennen) in seinem Homeoffice und konferiert frustriert mit seinen ebenfalls am Küchentisch arbeitenden Kollegen in London und Amsterdam und denen, die vor ihren Familien ins physische Büro geflohen sind. Fitness-Studio und Sportstätten: schon lange zu, auch für die Kinder. Mittags Freundinnen oder Kolleginnen zum Business-Lunch treffen: Fehlanzeige. Sushi geht zum Glück auch ganz gut to-go im Januar, wird wenigstens nicht kalt. Dienstreisen? Gott bewahre, wohin denn auch?

Und dazu kommt bei uns Konferenzdolmetscher:innen: Auch die Arbeit – so man denn überhaupt welche hat, denn schließlich sind seit nunmehr fast einem Jahr Großveranstaltungen abgesagt, Messen werden in den kommenden Monaten nicht stattfinden, kaum jemand reist… – hat sich fundamental geändert. Statt an wechselnden, spannenden Orten immerzu neue Menschen zu treffen und sich neue Welten zu erschließen, sitzen wir in dunklen Dolmetschstudios, in abgelegenen Industriegebieten, in denen man die Technik aufgebaut hat, fernab von den Teilnehmenden und hören knisternden Ton über schwache Internetverbindungen.

Das ganze hier beschriebene Lamento lässt sich im „Circle of Concern“ nach Steven Covey zusammenfassen – alle Themen, die einen betreffen, interessieren und beschäftigen. Viel kleiner dagegen ist der „Circle of Influence“, sprich, der Dinge, die wir überhaupt selbst beeinflussen und ändern können. Schulen – kann ich nicht öffnen! Corona – kann ich nicht wegzaubern! Und vielleicht sind es bei genauerer Betrachtung momentan nicht einmal 30 %, die ich wirklich unter Kontrolle habe. Was hilft? „Akzeptanz“, sagt die Coachin. „Man muss es nicht mögen, aber akzeptieren.“ Und wem fiele da nicht das alte, u. a. dem US-Theologen, Philosophen und Politikwissenschaftler Reinhold Niebuhr zugeschriebene „Gelassenheitsgebet“ ein: „Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Immer wieder so wahr und wenigstens eine Konstante in dieser aus den Fugen geratenen Welt. Und wer weiß – vielleicht wird 2021 ja doch besser, als man denkt…

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